Die "Familienwegläufer" beim JugendNotDienst Berlin - Bedingungen und Möglichkeiten der familienbezogenen Hilfe für Jugendliche in akuten Krisensituationen

01/2004 – 04/2005

Prof. Dr. Gerda Simons

Veröffentlichung
Simons, Gerda: Die „Familienwegläufer“
im JugendNotDienst Berlin.
Forschungsbericht. Berlin 2005

Auftraggeber
JugendNotDienst Berlin


Aufgabe
Der JugendNotDienst Berlin nimmt als zentrale Einrichtung im Auftrag aller zwölf Bezirke in Berlin die Aufgaben der Inobhutnahme wahr. Im Spektrum der Regelungssystematik des Kinder- und Jugendhilfegesetzes hat der für diese Einrichtung maßgebliche § 42 SGB VIII eine Sonderstellung. Er ermächtigt Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, sich in akuten Krisensituationen unmittelbar  an die entsprechende Anlaufstelle der Jugendhilfe zu wenden. Der Berliner JugendNotDienst konzentriert diese Funktion in einem überbezirklichen Krisendienst, der rund-um-die-Uhr erreichbar und in einem eigenen Gebäude untergebracht ist.

Im Forschungsprojekt „Familienwegläufer“ wurden im Jahr 2004 diejenigen Klienten erfasst, die in ihrem aktuellen Lebensumfeld im weitesten Sinne als Familienverband mit einem oder mehreren leiblichen Angehörigen zusammenlebten. Die Hilfeersuchen dieser Jugendlichen stellen eine besondere Herausforderung dar. Die Jugendlichen offenbaren sich in einer akuten Notlage, die sie im Rahmen ihres familiären Lebensalltags erlebt und erfahren haben. Sie kommunizieren ihre Hilfebedürfnisse und -erwartungen in ihren eigenen Worten und Sinnzusammenhängen, gemäß ihrer je eigenen Bedeutungswelten. Letztlich ist in den Krisengesprächen nicht ein einzelnes Symptom oder Individuum, sondern ein familiäres System als Ganzes das Gegenüber im Beratungsprozess. Die Krisensituationen haben sich meistens in einer zeitlich langen Vorlaufphase angebahnt, wenn sie dann akut zu Tage treten, werden sie in einer Deutlichkeit sichtbar, die vielleicht so nur für eine kurze Zeit vorherrscht. Der erste Zugang zu dieser familiären Krisensituation vermittelt sich für die Helfer aus der Perspektive der Jugendlichen. Besonders diese Ausgangsbedingung ist im weiteren Verlauf der Fallarbeit so kaum noch anzutreffen, denn nun werden weitere Einflussgrößen – das örtlich zuständige Jugendamt, die Eltern, die Mitarbeiter in den Krisendiensten – tätig.

Vorgehen/Methode
In das Forschungsprojekt wurden alle 566 Fälle in der Gruppe der Familienwegläufer des Jahrgangs 2004 einbezogen. Die Untersuchung galt der Frage, mit welchen typischen Problemlagen als Teilelement des jeweiligen familiären Lebensumfeldes die Jugendlichen beim JugendNotDienst Berlin Hilfe suchen. Es sollte erforscht werden, in welcher Weise die Kontaktaufnahme zum JugendNotDienst zustande kommt, in welcher Phase der Problementstehung diese erfolgt und in welchen konkreten Einzelschritten die Mitarbeiter des Dienstes ihre Hilfen gestalten Ein besonders wichtiger Abschnitt der Untersuchung galt der Erfassung der weiteren Entwicklungen nachdem die Fallzuständigkeit an das jeweils örtlich zuständige Jugendamt  abgegeben worden ist. In einer ersten fallbezogenen Abfrage nach drei Wochen und ein zweites Mal nach drei Monaten wurden die jeweils zuständigen Jugendämter gebeten, über die weiteren Entwicklungen im Fallverlauf Auskunft zu geben. Diese Daten bilden zusammen mit den  angefertigten Gesprächsprotokollen die Basis der Untersuchung.

Ausgewählte Ergebnisse

  • Der JugendNotDienst bearbeitet Krisen mit hohem Problemdruck und häufig hoch-komplexen personellen Verflechtungen. Die Mitarbeiter des Dienstes führen Krisengespräche durch, als deren Resultat meist unter Zeitdruck die erforderlichen Entscheidungen über das  weitere Vorgehen in der Fallbearbeitung getroffen werden müssen. Angesichts dieser Ausgangslage überrascht das Forschungsergebnis zur Platzierungsfunktion des JugendNotDienstes. In der Gruppe der Jugendlichen, die sich drei Monate nach den Krisengesprächen beim JugendNotDienst zu Hause befanden, waren 71 % direkt vom JugendNotDienst aus nach Hause entlassen worden, 29 % waren zunächst fremduntergebracht und befanden sich erst nach drei Monaten wieder zu Hause.
  • In der Gruppe der Jugendlichen, die sich drei Monate nach Beendigung der Kontakte zum JugendNotDienst in Fremdunterbringung befanden, waren 78 % der Jugendlichen direkt vom JugendNotDienst aus in die Fremdunterbringung übermittelt worden.
  • Drei Monate nach dem Erstkontakt im JugendNotDienst befanden sich 51 % der Jugendlichen wieder zu Hause.
  • Die Mitarbeiter des JugendNotDienstes führen auf verschiedenen Verfahrenswegen eine Entscheidung darüber herbei, ob ein Jugendlicher zurück in sein Herkunftsmilieu oder in eine Einrichtung der Jugendhilfe vermittelt werden soll. Beispielsweise kann der Fall frühzeitig an das örtlich zuständige Jugendamt abgegeben werden, von dem aus dann diese Entscheidung getroffen wird. Die Forschungsergebnisse zeigen jedoch eindeutig, dass immer dann, wenn bereits im JugendNotDienst eine Platzierungsentscheidung getroffen wurde,  diese sich bei der Abfrage zum Fallverlauf nach drei Monaten als erstaunlich stabil erwiesen hat.
  • Die Krisengespräche im JugendNotDienst werden überwiegend mit Jugendlichen geführt. Die Mitarbeiter sind jedoch verpflichtet, die Personensorgeberechtigten möglichst umgehend über das Hilfeersuchen der Jugendlichen in Kenntnis zu setzen. Die Protokolle belegen die methodische Vielfalt, mittels  derer die Mitarbeiter diesem Auftrag des Gesetzgebers nachkommen. Die kommunikative Kompetenz der Mitarbeiter betrifft die Befähigung, noch während des aktuellen Beratungsverlaufs die Personensorgeberechtigten in die Hilfe einzubeziehen und zugleich den Kontakt zum Jugendlichen zu festigen.
  • Eine besondere Rolle haben die so genannten „Familiengespräche“. Die Beteiligten werden möglichst zeitnah in den Dienst eingeladen und im kommunikativen Prozess dabei begleitet, eine selbst bestimmte Lösung ihrer Probleme zu erarbeiten. Offensichtlich erfüllen die Berater im JugendNotDienst den verschiedenen Beteiligten gegenüber die Funktion einer „Übersetzungsleistung“. Dies lässt sich aufzeigen in der Gruppe derjenigen Erwachsenen, die zu Beginn des Kontaktes die Wiederaufnahme des Jugendlichen in ihren Haushalt verweigern. Die Familiengespräche erfolgen dann mit der Zielsetzung, allen Beteiligten das Aussprechen solcher Gedanken, Einschätzungen und Gefühle zu ermöglichen, die dieser Ablehnung zugrunde liegen.
  • In 49 % der Fälle gaben die Jugendlichen als Anlass für die Kontaktaufnahme mit dem JugendNotDienst einen akuten Konflikt mit ihrer Mutter an.
  • In 31 % der Fälle wurden die Jugendlichen durch die Polizei zum JugendNotDienst gebracht.